Freie Liebe und Freiheitsliebe

Berlinale-Retrospektive European 60s. Revolte, Phantasie & Utopie

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Es ist die größte Retrospektive, die je im Rahmen der Berlinale ausgerichtet wurde, gewidmet dem Kino der Sechziger in Europa und eine Kehrtwende gegenüber dem Augenmerk auf das deutschsprachige Exil, mit der die Veranstaltung einst eine Brücke schlug zwischen Europa und dem amerikanischen Westen. Während alljährlich auf Wettbewerbsebene die Verfechter des europäischen Autorenkinos, die Fans südlicher und östlicher Kinematografien und selbst ernannte Artenschutzbeauftragte für das zarte Pflänzchen einheimischer Kinokultur gegen den amerikanischen Kulturimperialimus schimpften, während gleichzeitig die versammelte Presselandschaft nach mehr Amerikanern, mehr Stars, mehr Glamour in Berlin verlangte, konnte man im Retrospektiven-Programm aus erster Hand erleben, wie befruchtend eine Begegnung von Mitteleuropa und Hollywood im Einzelfall sein kann. Mit dem Verlust der formalen Einheit einer Werkmonografie (oder dem Anspruch größtmöglicher Komplettheit, wie sie im konkreten Fall naturgemäß nicht zu leisten war), gerät jede Filmschau in die Gefahr der Beliebigkeit. Aus dem Filmschaffen eines ganzen Kontinents während einer Dekade eine repräsentative Auswahl zu filtern, fällt selbst mit neuerdings zwei Abspielstätten schwer. Deshalb wohl unterteilten die Macher von Filmmuseum Berlin und Deutscher Kinemathek ihr Programm in Themenkreise, die mit Überschriften wie »Liebe«, »Protest« und »Pop« die Eckpfeiler des Jahrzehnts umreißen, ohne Letztgültigkeit der Auswahl vorzuspiegeln. Es ergeben sich interessante Synergieeffekte zum Hauptprogramm. István Szábo, mit seinem Furtwängler-Film »Taking Sides« außer Konkurrenz im Wettbewerb vertreten, eröffnete mit »Zeit der Träumereien« von 1963/64 auch das Programm der Retrospektive. Und was im einen Berlinale-Kino 120-fach im Original zu bewundern ist, stellt im Kino nebenan bei den Neuerscheinungen ein junger französischer Regisseur kunstvoll nach, wenn er in »La bande du drugstore« die Zeit kurz vor Pille und Mini rekonstruiert. Von freier Liebe und Selbstbestimmung, von Mode und Musik, von Freiheitsliebe und Revoluzzertum ist auch in den Filmen der Retrospektive viel die Rede, auch wenn die großen politischen Momente der Dekade, von Mauerbau bis Pariser Mai und Prager Frühling, eher den Hintergrund bilden. Ein erheblicher Teil der Filme stammt aus den beiden deutschen und ihren östlichen Anrainerstaaten, von Filmemachern wie Miklós Jancsó über Krzysztof Zanussi bis Michalkow-Kontschalowski. Der Ausschnitt der westdeutschen Produktion reicht vom frühen Fassbinder bis Alexander Kluge, von Ula Stöckl bis May Spils, die DEFA ist mit dem unverzichtbaren »Spur der Steine«, mit Joachim Kunerts »Das zweite Gleis«, mit Egon Günther und dem frühen Winfried Junge vertreten. Wer denn Politisches sucht, kann zwischen der hysterischen Kommi-Hetze in William Kleins Politsatire »Mr. Freedom« und dem Klassenkampf in Bertoluccis poetischem »Vor der Revolution« oder so regime-spezifischen Verbotsfilmen wie dem tschechischen »Wut und Trauer« von Sirovy oder Zschoches »Karla« wählen - oder gleich die neue Freikörperkultur auf der Leinwand politisch interpretieren. Und sollte auch den wunderbar gestalteten Begleitband nicht verschmähen, der Zitate von Václav Havel und Alberto Moravia, von Godard, den Beatles, dem mit mehreren Filmen vertretenen Jürgen Böttcher und von Christa Wolf verbindet mit Großaufnahmen der verträumten neuen Gesichter vor der Kamera. Dazu ein Essay von Jörg Becker. Filmisch bevorzugt die Schau die (Wieder-)Entdeckung vor der Bestätigung des Bekannten, ein stilles Meisterwerk des Regionenkinos wie Vittorio de Setas »Die Banditen von Orgosolo« vor den nachruhmträchtigeren Aufrührer-Gesten eines Pasolini. Die Themen sind europaweit ähnlich, schließlich ist nicht nur die Filmkunst eine internationale, sondern bei aller Frische des Bruchs mit den Eltern wirft auch die kommende Globalisierung schon ihre Schatten voraus. Es sind ihre vielen Variationen von Land zu Land und von Künstler zu Künstler, für die sich diese Filmschau lohnt. Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): European 60s. Revolte, Phantasie & ...

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